"Jul - Geschichte einer Suche", 1. Kapitel

 

Er hatte sie nicht gefunden. Jetzt saß er in seinem Hotelzimmer in Gloucester und überlegte, wie es weitergehen sollte. Draußen am Himmel zogen Möwen ihre Kreise – die großen Möwen, die es in Deutschland nur an der See gibt. Hier war die See auch nicht weit. Er fragte sich, ob sie einmal dort gewesen waren, Monika und Jul, in der Woche, die sie hier verbrachten. 

   So sagte es ihm die junge Mutter, mit der er am Abend zuvor sprach, auf der Wellesley Street, an der angegebenen Adresse, die er durch Zufall herausgefunden hatte: Eine Woche seien sie hier gewesen, Ende Februar schon, dann seien sie weg, sie wisse nicht wohin, Monika habe nichts verraten. Das sei ihre Privatsache, habe sie trotzig gesagt. Er musste lächeln: Ja, so sprach sie, das passte. Die Frau, eine Schulfreundin Monikas, sagte, sie habe sie aufgefordert, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, statt jeden Tag mit der Mutter in Polen zu telefonieren. Die beiden hätten deswegen sogar Streit gehabt. Immerhin: Jul habe sich wohlgefühlt. Die Frau hatte auch ein Kind, mit dem hätte Jul gespielt. 

   Aber das war kurz nach dem Verschwinden. Da wird Jul alles noch für einen Urlaub, ein großes Abenteuer gehalten haben. Das Einzige, was ihn beruhigte: Monika hatte sich offenbar gut um sie gekümmert. Einmal, erzählte die Frau, sei Jul krank geworden, nichts Schlimmes, doch Monika habe mit ihr unbedingt zum Arzt gewollt und sie sei mitgekommen, um zu dolmetschen. 

 

In den letzten Monaten zuhause hatte Jul sich weiterentwickelt, sie war gewachsen und strahlte viel Selbstbewusstsein aus. In ihrer Kita wurde sie Gruppensprecherin. Das war der Moment, da sah er sie plötzlich mit anderen Augen: nicht mehr nur als Kleinkind, das man beschützen muss, vielmehr als jemanden, der beginnt, sich die Welt zu erobern. 

   Zur gleichen Zeit wurde Donald Trump Präsident der USA. Wenn das kein Zufall war ... Vielleicht hätten sie tauschen sollen: Trump Gruppensprecher in der Kita und sie Präsidentin der Vereinigten Staaten? Wenn er sich diesen Trump so ansah, erschien ihm der Gedanke gar nicht mal abwegig. 

   Oder war das nur eine brüchige Fassade? Sie malte viele Bilder in dieser Zeit, Prinzessinnen kamen darin vor, schnelle Pferde und wehrhafte Burgen. Eine beschützte Prinzessin wollte sie sein. Wie gerne sie sich verkleidet hat! Als Elsa. Mit Pferden und Einhörnern war sie per du. Ihren letzten Geburtstag, den sie gemeinsam verbrachten, feierten sie auf einem Ponyhof. Es kamen nur wenige Gäste, weil er und Monika es dank ihrer Streitereien nicht hinbekamen, die Feier rechtzeitig zu organisieren, aber Jul war glücklich, dass sie reiten durfte. Sie saß auf dem Pony und strahlte über das ganze Gesicht. 

   Manche ihrer zuletzt gemalten Bilder, die er in einer Mappe verwahrte, waren abstrakt, waren farben- und formenstark. Eines erinnerte ihn an die „Kämpfenden Formen“ von Franz Marc: Auch in ihren Bildern war Kampf, rot und schwarz und alle möglichen anderen Farben, nichts ruhte, alles bewegte sich, war aufgewühlt. 

 

Er ging zur Polizei und gab die Vermisstenanzeige auf, die er vorbereitet hatte. Der Fall erhielt eine Incident number. Eine korpulente Polizistin stellte ihm viele Fragen, die er geduldig beantwortete; er hatte das Gefühl, dass sie sein Anliegen ernst nahm. Seine und die Daten der beiden Gesuchten gab er weiter, Personenbeschreibungen, Monikas Handynummer, die nicht mehr funktionierte, die Adresse in der Wellesley Street – darauf hoffend, dass Monikas Schulfreundin nun keinen Ärger bekam.

   Dann hatte er frei, früher als geplant. Er ging in die Stadt, besichtigte die Kathedrale und den Hafen, kaufte ein noch fehlendes Ticket für seine Rückfahrt und versuchte, einen Netzadapter zu finden, um Handy und Laptop aufzuladen, deren Stecker hier nicht passten. 

   Er ließ die Eindrücke seiner ersten Englandreise auf sich wirken, die der Landschaft, die ihn ein wenig an Schleswig-Holstein erinnerte, der Stadt Gloucester, die er gar nicht so uninteressant fand, wie sein Reiseführer sie beschrieb, die der vielen Polen hier – eine Community, in der sich Monika auch ohne Englischkenntnisse zurechtfinden konnte. 

 

Seine Schwiegermutter hatte ihm Vorwürfe gemacht, warum er es so weit habe kommen lassen, sie gab ihm die alleinige Schuld am Auseinanderbrechen der Familie. Das wunderte ihn nicht: Hatte Monika sich doch in unzähligen Anrufen nach Hause immer als Opfer dargestellt. Und Monikas Mutter wurde zur Kronzeugin der Anklage. Dazu der Bruder, der in Russland arbeitete und eine Schwester, die in den USA lebte, von überall her kam Kritik: Deutschland, Polen, USA, Russland, die ganze Welt schien gegen ihn zu sein. 

   Seine Schwiegermutter las ihm die Leviten, und sein Schwager dolmetschte. Sie sagten, sie wüssten nicht, wo Monika und Jul seien. Das glaubte er ihnen zwar nicht, doch er schwieg. Sie würden ihm das Versteck ohnehin nicht verraten. Außerdem wurde das Gespräch langsam besser, man erinnerte sich der guten Zeiten, erinnerte sich des gemeinsam Erlebten, und schließlich luden ihn beide noch zum Essen in ein Restaurant in die Altstadt ein. 

 

Er fragte sich, welche der Wege, die er jetzt ging, Monika und Jul vor einem Monat ebenfalls schon gegangen waren. Waren sie in der Innenstadt gewesen, hatten sie sich die Kathedrale angeschaut? Sein Reiseführer belehrte ihn, dass dort zwei englische Könige des Mittelalters begraben lägen, die beide nicht sonderlich erfolgreich regiert hätten. Das passt, dachte er: Die konnten ihr Land nicht regieren und er nicht seine Familie. Und er überlegte, sich in die Gruft dazuzulegen, und nur deren geringe Abmessungen und die Vorstellung, auf ewig mit angewinkelten Beinen dort ausharren zu müssen, hielt ihn zurück. 

   Waren sie die Fußgängerzone entlanggeschlendert, hatten sie das Spielwarengeschäft betreten, in das er nun eintrat? Er kaufte eine Kleinigkeit für Nik, hätte auch Jul gerne etwas gekauft, aber er wusste nicht, wann sie sich wiedersehen würden und er es ihr geben könnte, und vielleicht spielte sie schon gar nicht mehr mit Sachen für kleine Mädchen, wenn sie sich wiedersahen.

   Waren sie im Gloucester Park gewesen? Der lag nicht weit von der Wellesley Street entfernt. Viele Spiel- und Turngeräte standen dort auf dem Spielplatz, und er hielt Ausschau, ob er Jul inmitten der Kinderschar entdeckte, obwohl das nicht sein konnte, und natürlich fand er sie nicht. 

   In polnischen Geschäften fragte er die Angestellten nach Monika und Jul, zeigte Fotos, aber niemand erinnerte sich an sie. 

   Wo waren sie jetzt? In einer anderen Stadt in England? In Deutschland? In Polen? Er wusste nicht, wo er suchen sollte. Was er fand, waren die Schatten der beiden, Echos, längst verwehte Spuren. Wenn Monika fürchtete, er könnte ihr Versteck finden und plötzlich vor der Tür stehen, warum meldete sie sich nicht? Es war die Sprachlosigkeit, die er nicht ertrug, waren die kleinen Gesten, die ihm fehlten, das Alltägliche, das Abholen Juls vom Kindergarten, das Essenmachen für Jul und Nik, der Gang zum Spielplatz, das gemeinsame Einkaufen, das Vorlesen einer Gutenachtgeschichte, das Umarmen vor dem Einschlafen.

 

Gern hätte er beiden von seiner Rückreise erzählt, ihnen berichtet, dass er sich nun im Eurotunnel befand, viele Meter unter dem Meer, und dass es ein seltsames Gefühl war: beschützt und ausgeliefert zugleich. Bewunderung überkam ihn für Ingenieure, die so etwas bauten, Bewunderung, dass es möglich war, in neun Stunden von Mittelengland nach Westdeutschland zu reisen, vier Länder an einem Tag, und den Abend, den hatten Nik und er noch für sich. Ihm immerhin konnte er Gute Nacht sagen, aber es war nur die halbe Botschaft, die andere Hälfte ging ... ja, wohin eigentlich? 

   Und Facebook schlug ihm vor, seine Erinnerungen von vor einem Jahr zu teilen, die vom Nordseeurlaub zu viert, von Nik und Jul am Strand, von Ausflügen mit geliehenen Rädern, vom Wikingerfest und einem Lagerfeuer, bei dem ihm unvermittelt sentimental zumute wurde und er Monika nach langer Zeit wieder einen Kuss gab. Sie reagierte nicht. Vielleicht dachte sie, er wolle sie auf den Arm nehmen, aber dem war nicht so. 

 

In Brüssel stieg er in den ICE, der noch Aufenthalt hatte. Angestellte in dunkelblauen Anzügen und roten Krawatten bereiteten alles für die Abreise vor. Er wartete, dass das Bordbistro öffnete und bestellte Chili con Carne und ein Bier. Aus der ersten Klasse holte er kostenlose Zeitungen, Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche, doch ein Schaffner mit Ohrringen von beeindruckender Größe, dem er kein Erste-Klasse-Ticket zeigen konnte, wies ihn zurecht. Er musste sie zurückbringen – durch ein Spalier aus Erste-Klasse-Menschen, die ihn ansahen wie einen Verurteilten. 

   Genau so hatten sie dreingeschaut, wenn er mit Niklas früh morgens in den Regionalexpress nach Düsseldorf einstieg, wenn sie zwei freie Plätze in der ersten Klasse suchten, weil Nik nur dort an einem der kleinen Tische Hausaufgaben machen konnte. Er machte seine Aufgaben zwischen verschlafen dreinblickenden Männern im Anzug, Frauen im Businesskostüm, manche die Augen geschlossen, andere den Blick auf das Smartphone, den Laptop oder, selten noch, in die Tageszeitung oder ein Buch gerichtet. Manche lächelten, wenn Nik ihn laut um Rat bei seinen Aufgaben fragte, andere blickten genervt. Bald wusste er, wo die Genervten ihre Stammplätze hatten und setzte sich mit ihm lieber woanders hin. 

   All jenes, was Pädagogen ihm sagten – das Pendeln gehe nicht, sei mit dem Kindeswohl nicht vereinbar –, stimmte nicht: Für Nik war es eine spannende Zeit, er mochte Züge und Bahnhöfe, und genug Schlaf bekam er auch. Die Hausaufgaben waren fertig, wenn er in der Schule ankam. Nein, er war es, der keine Lust mehr dazu hatte, denn er fuhr die Strecke jetzt, seit sie zuhause ausgezogen waren, jeden Tag viermal; er war genervt und wollte eine Änderung. 

 

Er spürte Vorfreude beim Gedanken an das Wiedersehen mit seinem Sohn. Ihm fiel auf, dass er noch keine Geschenke für Beate und Bernhard hatte, bei denen Nik die letzten Tage verbracht hatte. Bestimmt würde es ein großes Essen geben, und er kam mit leeren Händen. 

   Zwei Wochen zuvor waren sie – Nik, er, Beate, Bernhard und deren Kinder Henriette und Anton – zusammen auf dem Spielplatz gewesen, als sie ein Unwetter überraschte. Seine Wohnung lag am nächsten, und sie flüchteten dorthin. Henriette, Antons kleine Schwester, war zum ersten Mal bei ihnen; sie entdeckte Juls Zimmer und begann sogleich, mit deren Sachen zu spielen, als seien es ihre eigenen. Sie schob Juls Puppenwagen vor sich her und wollte ihn nicht mehr loslassen. Also gaben sie ihn ihr mit, als Dauerleihgabe bis zu Juls Rückkehr. 

   Überall in der Wohnung Juls Sachen; es wäre ihm wie Verrat erschienen, sie wegzuräumen, wegzugeben, wegzuwerfen. Schließlich könnte sie jeden Tag zurückkommen. Monika könnte genug von ihrer Flucht haben. Sie könnte feststellen, dass auch in England oder Polen oder wo auch immer nicht jeden Tag Milch und Honig flossen. Oder – die in seinen Augen wahrscheinlichste Möglichkeit – ihre Sehnsucht nach Niklas könnte übermächtig geworden sein. Wie hielt sie das aus, so ganz ohne ihn? Vermutlich ebenso schlecht wie er, so ganz ohne Jul. 

 

Er klingelte, wartete, bis der Türöffner summte. Mit dem Koffer in der Hand, schwer atmend, stieg er die fünf Etagen hinauf. Nik stand in der Tür, und er schaute, ob nach ihm, seinem Vater, noch jemand die Treppe hinaufkäme. Enttäuschung lag in seinem Gesicht, als er erkannte, dass dem nicht so war. Es vergingen einige Augenblicke, bis er zu ihm kam und ihn umarmte. 

   Henriette und Anton liefen herbei. Für beide hatte er am Kiosk Überraschungseier gekauft und für Beate und Bernhard Pralinen. Der Kiosk hatte nur preiswerte Pralinen, die nicht besonders schmeckten, ein Verlegenheitsgeschenk, das sie sicher nicht zum ersten Mal bekamen. Er stellte sich ihre Abstellkammer als eine Ansammlung von Putzmitteln inmitten vieler ungeöffneter Pralinenschachteln vor. 

   Die Rache der Gastgeber bestand in einem veganen Essen, dessen Zutaten und Geschmack er nicht definieren konnte, und einem grünen Getränk, das sie gemahlenen Frosch nannten.

   Nach dem Essen berichtete er von seiner Reise. Er tauchte ein in die Wärme, die in diesen Räumen herrschte, die Harmonie, die von den vieren ausging. Die bekamen es hin; warum hatten Monika und er es nicht hinbekommen? Warum meldete sie sich nicht? Wenn es eine Lektion sein sollte, war sie gelungen: Er würde jede Forderung akzeptieren, damit sie mit Jul zurückkehrte.

Nur 1000 Kilometer, ein Katzensprung, ein Einhorn-Flug

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